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Ishibashi

Bis hierher habe ich aber nur ein unvollständiges Bild von Japan gezeichnet. Denn: Wer Tokyo für Japan hält, der glaubt auch, München sei Bayern. So großstädtisch-chaotisch Japan sein kann, so liebenswert provinziell ist es, fernab seiner Metropolen. Im Jahr 2003 nahm ich zwei Wochen lang an einem Austauschprogramm teil und lebte in einer Gastfamilie in Ishibashi, einer kleinen Stadt, zwei Stunden nördlich von Tokyo. Seit einiger Zeit heißt Ishibashi, weil es mit zwei Nachbarorten zusammengelegt wurde, übrigens offiziell Shimotsuke.

ReisfeldIshibashi - das sind: einstöckige Einfamilienhäuser, Reisfelder, eine zentrale Straße mit Läden und dem Rathaus der Gemeinde, außerdem eine nahe Nissan-Fabrik. Ishibashi – das ist die Stadt der "Gebrüder Grimm". Die Gulli-Deckel dort zeigen Rotkäppchen und den bösen Wolf – und im Stadtpark stehen wetterfeste, zweidimensionale Märchenfiguren aus Kunststoff.

Aber ich möchte Ihnen von meiner Gastfamilie erzählen, davon, wie moderne Japaner es mit der Religion halten. An einem Wochenende dieser vierzehn Tage in Ishibashi fuhr meine Familie mit mir in einen wunderbaren Ausflugsort. Es gibt dort, tief in den Bergen, viele heiße Quellen, die übrigens zum besten gehören, was Japan zu bieten hat.

IshibashiNach dem – geschlechtergetrennten – Bad in einer dieser Quellen, besichtigten mein Gastvater, meine Gastmutter, die zwei Töchter und der Schwiegersohn mit mir einige buddhistische Tempel und shintoistische Schreine. Nur zur Erklärung: Der Shintoismus, eine Naturreligion, ist eine originär japanische Erfindung. Den Buddhismus haben die Japaner dagegen vor Jahrhunderten aus China "importiert".

Doch zurück in den Ausflugsort. Dort, in einem der Tempel, überraschten mich zwei Dinge.

Zum einen ging die von einem Mönch geleitete Besichtigung mit ihren historischen Informationen nahtlos in ein quasi erleuchtetes Shoppingprogramm über. Mitten in dem schönen Holzbau, der den Blick auf einen See und die Berge freigab, also direkt im Tempel, saß ein zweiter Mönch vor einem Tisch voller religiöser Souvenirartikel. Seine Finger glitten zu seinen dahin gemurmelten Anpreisungen über Glücksanhänger und Schmuck, wie ich es sonst nur im Werbeverkaufsfernsehen gesehen habe.

GullideckelZum anderen warf meine Gastmutter, eine kleine Frau mit lockigen Haaren und großer Brille, die für Oliver Kahn schwärmt, und die ich bis dahin, um es mal zaghaft auszudrücken, als nicht besonders religiös erlebt hatte, wenig später mehrere Yen-Münzen in einen Holzkasten, faltete ihre Hände und betete konzentriert, ja geradezu inbrünstig über eine Minute – für meine gesunde Rückkehr nach Deutschland, wie ich später erfuhr.

Es ist, wie wir es zuvor schon bei Wim Wenders gehört haben: Das pragmatische und das spirituelle begegnen sich in Japan ohne große Berührungsängste.