Sprachenzentrum
print

Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Tokyo

Meine Damen und Herren,

am Anfang unserer Reise steht – natürlich – Tokyo, die Hauptstadt. Sie ist Teil des schmalen Siedlungsgebiets, in dem rund zwei Drittel der Japaner leben und liegt auf der größten der vier japanischen Hauptinseln: auf Honshu.

Bild: Tokyo bei Nacht, Stadtteil ShinjukuVielleicht beginne ich am besten mit den Klischees: Tokyo ist ein Moloch, das sich tief in die Landschaft frisst. Eine Ansammlung aus Beton, ohne wirkliches Zentrum. Ein Meer aus grellen Neonlichtern, sobald die Dunkelheit einsetzt. Eine Herausforderung für die Sinne. (Bild: Tokyo bei Nacht, Stadtteil Shinjuku)

 

 

Blick auf Tokyo, Stadtteil KasumigasekiDie größte Stadt der Welt. Ein lauter Flecken, auf dem sich Millionen Menschen drängen. Und doch ist Tokyo letztlich von überwältigender Sanftmut – gewaltlos und höflich. (Bild: Blick auf Tokyo, Stadtteil Kasumigaseki)

 

 

 

 

Platz vor dem Bahnhof ShibuyaZu meinen Lieblingsplätzen in der Stadt zählt die Straßenkreuzung vor dem Bahnhof Shibuya. Dort wälzen sich, wenn die Ampel auf Grün schaltet und dazu der synthetisch-erzeugte Ruf eines Kuckucks ertönt, wahre Massen von Fußgängern über den Asphalt. Doch alles geht geordnet vonstatten, beinahe unaufgeregt, in sanften Wellenschlägen, die den Einzelnen in eine rythmische Bewegung aufnehmen. Kein Drängeln, kein Schubsen. (Bild: Platz vor dem Bahnhof Shibuya)

Tokyo fasziniert mich aber auch in seiner Endlosigkeit. Man kann hier tagelang durch die Straßen streifen – und immer wieder neues entdecken. Die Schönheit liegt dabei eher im Detail.
nach oben

Straßenszene in TokyoTokyo ist schon von manchen eine hässliche Stadt genannt worden. Aber ich finde, das stimmt nicht. Der deutsche Regisseur Wim Wenders ("Buena Vista Social Club") beschreibt die Atmosphäre der Stadt sehr treffend: "Tokyo überwältigt mich mit seinen Extremen: völlig materialistisch auf der einen, überraschend spirituell auf der anderen Seite. Die allgegenwärtigen Tempel, Schreine und Friedhöfe stehen in starkem Kontrast zu den Banken, Einkaufszentren und Kaufhäusern. Und in dieser Gleichzeitigkeit scheint kein Widerspruch zu bestehen. (...) Tokyo ist (außerdem) eine Stadt voll von unglaublichen Geräuschen. Ich liebe diesen endlosen Soundtrack. Ich bin süchtig danach - nach dem Lärm aus den Spielsalons. (...) Und ich liebe den Geruch von Tokyo, seltsam süß und verraucht und feucht." (In: Ben Simmons: "Tokyo Desire", Shogakukan 2000; Bild: Straßenszene in Tokyo)

SpielsalonTokyo ist auch ein Rätsel. Glauben Sie mir: Man kann sich in wenigen Städten der Welt so gut verfahren und verlaufen wie in dieser. Viele Plätze und Straßen ähneln sich zum Verwechseln. Tatsächlich wahr: Oft gibt es zudem keine Straßennamen, von sinnvoller Nummerierung ganz zu schweigen. Wer eine bestimmte Adresse sucht, braucht eine detaillierte Wegbeschreibung. (Bild: Spielsalon "Pachinko")

Bei meinem letzten Besuch in Tokyo konnte ich bei Bekannten übernachten. Allein: Ich musste den Weg zu ihrer Wohnung finden. Die erste Hürde war, den nächstgelegenen Bahnhof auf dem U-Bahn-Plan auszumachen. Das Tokyoter-U-Bahn-Netz ist ein dickes Knäuel mit vielfarbigen Fäden – und Bahnhofsnamen, die in deutschen Ohren alle gleich klingen: Akasaka, Asakusa, Asagaya, Akebonobashi, Akasakamitsuke... usw. Jeder Bahnhof hat noch einmal viele verschiedene Ausgänge, die einen manchmal ans andere Ende der Stadt katapultieren. Und genau das passierte bei meinem letzten Besuch: Ich nahm den falschen Ausgang, folgte - natürlich auf falschem Raster - der Wegbeschreibung, die mir mein Bekannter vorher per E-Mail geschickt hatte – und entfernte mich also immer weiter von meinem Ziel, bis ich irgendwann, vielleicht nach einer dreiviertel Stunde, verzweifelt beschloss, ihn von einem öffentlichen Telefon aus anzurufen. Japaner haben Gott sei Dank alle ein Handy. Mein Bekannter war also erreichbar. Er empfahl mir, zuerst den Weg, den ich genommen hatte, exakt zurückzugehen. Dann könne man weitersehen, sagte er. Ich war in der Zwischenzeit aber ein paar Dutzend Mal um Ecken gebogen und hatte, offen gesagt, vollkommen die Orientierung verloren. Zudem wurde es langsam dunkel.
nach oben

Sie werden wahrscheinlich sagen: Hätte ich nicht einfach nach dem Weg fragen sollen? Nun ja: Meine Japanisch-Kenntnisse sind leider arg begrenzt. Und außerdem: Was hätte ich sagen sollen? Etwa: Ich suche irgendeine Wohnung, in irgendeinem Haus, das hier irgendwie ganz in der Nähe sein muss? Klingt nicht überzeugend, oder? Ich sprach dann trotzdem drei Fußgänger an – junge Männer, ein wenig älter als ich –, nannte ihnen den Namen der U-Bahn-Station. Ich glaube, sie wussten gar nicht, wovon ich sprach. Wiegesagt: Akasaka, Asakusa, Asagaya – die Namen ähneln sich, und wer eine Silbe auch nur ein bisschen anders betont, wird schon nicht mehr verstanden.

Das Problem ist nur: Japaner sind oft zu höflich, einfach "Nein" zu sagen. Die Passanten, die ich auf dem Weg ansprach, senkten ihren Blick, machten murmelnde Geräusche, blickten suchend umher, so, als liege die U-Bahn-Station vielleicht in Sichtweite auf der anderen Straßenseite. Dann nahmen sie mich an der Hand und schleppten mich in einen nahen 24-Stunden-Supermarkt, einen Konbini. Dort wurde meine Bitte mit dem Mann hinter der Kasse und einigen Kunden, die sich gerade Mikrowellen-Fertiggerichte und Bier in der Dose kauften, ausführlichst erörtert. Bestimmt zehn Minuten lang. Ich stand daneben und war – Sie kennen den gleichnamigen Film vielleicht, der vom westlichen Kulturschock in Japan erzählt –: lost in translation. Viel unangenehmer aber war die Situation für jene, die ich um Hilfe gebeten hatte, also für die Japaner. Sie fühlten sich verpflichtet, mich nicht eher gehen zu lassen, ehe mein Rätsel nicht gelöst war. Wir verließen den Supermarkt wieder, standen dann noch eine ganze Weile davor. Ratlosigkeit in ihren Gesichtern wie in meinem.

Was bloß tun?

Erneut vergingen Minuten. Die Gruppe beriet, und beriet, und beriet. Offensichtlich musste ein einstimmiges Ergebnis erzielt werden – erst dann wollte man wieder mit mir sprechen.

Dann endlich, doch noch die Erlösung: Ein anderer Japaner, von ihnen angesprochen, war des Englischen mächtig, wusste den Weg, zeigte ihn mir. Der U-Bahnhof lag übrigens nur zwei Straßen entfernt. Ich hatte – und muss an dieser Stelle eine abgenutze Metapher benutzen – den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Ich glaube, das war gewissermaßen ein sehr "tokyoterisches" Erlebnis. In all ihrer Gewaltlosigkeit und Geborgenheit, ist die Stadt nämlich doch ein echtes Abenteuer.