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Kyoto – aus Tokyoter Sicht

(Vortrag von Kaori Yamaguchi, Studentin der Internationalen Beziehungen, Universität Tokyo, derzeit Auslandsaufenthalt an der LMU)

Guten Tag, konnichiwa meine Damen und Herren,

Frau Naritomi sagte, ich sollte etwas über Kyoto, das heißt über die Kultur Kyotos erzählen. Geboren bin ich aber in Tokyo, bin dort auch aufgewachsen und besuche jetzt die Universität Tokyo. Noch verdiene ich keinen Cent Geld, also bin ich eigentlich noch nicht richtig aufgewachsen. Außerdem bin ich momentan hier in München Programmstudentin, darf also ein Jahr lang – ohne Gebühren dafür zu bezahlen – das deutsche Studentenleben genießen. Warum soll ausgerechnet ich etwas über Kyoto erzählen, sagte ich zu Naritomi-sensei, also zu Aki, wie die deutschen Studenten sie nennen. Weil eben Tokyo das genaue Gegenteil von Kyoto ist, erklärte sie mir.

Aki hat die Antipoden-Idee, die der Jesuit Luis Frois im 16. Jahrhundert entwickelte, hier in München sehr bekannt gemacht. Ich weiß davon auch, aber ich wusste trotzdem nicht, was Aki meinte. Ist Kyoto das Gegenteil von Tokyo?, fragte ich. Natürlich, sagte Aki grinsend. Tokyo und Kyoto – diese zwei Wörter werden aus genau den gleichen Buchstaben gebildet, die einfach umgekehrt zusammengesetzt sind. Kyotoer sind deshalb die Antipoden der Tokyoter. Erklären Sie, meinte Aki, auf diese Art doch einfach, dass die Kyotoer sozusagen umgedrehte, auf den Kopf gestellte Tokyoter sind.
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Ich werde also, als ungeschickte Tokyoterin, zu einigen Bildern etwas über Kyoto erzählen.

Wenn man dort hinfährt, landet man natürlich zuerst im Bahnhof von Kyoto. Das ist ein architektonisch merkwürdiger Bahnhof, sehr neu, fast für die Touristen gebaut, groß genug, durch die an ein Tal erinnernde Form. Nett, aber stilistisch gesehen ein Waisenkind, aber in dem Sinne eben ein Symbol des modernen Japans. Dann erleben wir vor dem Bahnhof schäbige Hochhäuser, die an ländliche Kleinigkeiten einer japanischen Provinzstadt erinnern. Aber der Blick auf die fernen Tempeldächer erfüllt einen schon mit Erwartungen.

Relativ nah liegt der (Oder die? Oder das? Das weiß ich nicht genau...) Sanjûsangen-dô. Im 12. Jahrhundert erbaut, eine lange Halle mit 33 Zwischenräumen, in denen man mehr als 1000 Statuen der Kannon sehen kann, Bodhissatwas der Barmherzigkeit aus der Kamakura-Zeit, hauptsächlich aus dem 13. Jahrhundert.

Ich finde, das ist recht imponierend. Ich verbeuge mich tief vor dieser Halle und fühle mich – entfremdet. Ich kann nämlich nichts mitfühlen: Ich weiß nur, dass ich mich imponiert zu fühlen habe.
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Aber beeilen wir uns – und kommen wir zum nächsten Tempel, dem bekannten Kiyomizu-dera, der zum ersten Mal im 8. Jahrhundert errichtet wurde und dessen heutiger Bau aus der Edo-Zeit stammt. Die kleinen Läden auf dem Weg zum Tempel sind schon eine richtige Verführung, wahrscheinlich jedenfalls für deutsche Gäste, aber auch für Tokyoter, wenn sie zufällig einen reichen, großzügigen Vater haben. Aber gehen wir einfach weiter, zur Bühne des Tempels. Genießen wir die weite Sicht, die reine Luft, den großartigen und freundlichen Holzbau.

Kiyomizu-deraBild: Kiyomizu-dera

Richtig verführerisch. Aber wozu oder wohin wird man hier verführt? Wenn man das wüsste! Aber dieses Gefühl empfindet man in Kyoto überall und ständig. Man fühlt sich verführt, aber zu was und wohin, das weiß man eben nicht. Dadurch entsteht eine gewisse Melancholie – und diese betrifft besonders die Tokyoter.

Von Kiyomizu-dera geht es weiter nach Norden, am Fuße des Ostbergs entlang. Higashi-Yama, Ostberg – das ist allen Japanern ein Begriff. Es gibt hier wie in Heidelberg einen „Philosophenweg“, wo man sich tatsächlich ostasiatischen melancholischen Meditationen hingeben kann. Die Luft ist feuchter als in Europa, und die Sicht ist immer ein bisschen getrübt.

Hier stoppe ich nun aber ganz abrupt meinen Spaziergang durch Kyoto, weil ich das Wesentliche für die Begegnung eines Tokyoters mit der Stadt Kyoto schon gespürt und geschildert habe: Da sind eben eine gewisse Melancholie, eine gewisse Entfremdung und außerdem das Gefühl der Heimatlosigkeit. In Kyoto werden sich die Tokyoter fast notwendigerweise bewusst, dass wir Japaner seit 150 Jahren unsere Vergangenheit immer mehr vergessen und verlassen haben. Jene Vergangenheit, die auch so sehr von Korea, China und Indien beeinflusst war – Einflüsse, die die Japaner aber auf jeden Fall ästhetisch zu verfeinern suchten, sehr oft mit Hilfe des Zen-Buddhismus.

Wie begegnen die Deutschen heute dem Christentum?
Ist diese Melancholie auch dabei?
Ich glaube nicht.
Gibt es so etwas ähnliches wie die Verlassenheit der Tokyoter?
Ich glaube nicht.

In Kyoto werden wir Tokyoter uns der Tatsache bewusst, dass wir nicht nur als Tokyoter, nicht nur als Japaner, sondern auch als Menschen entwurzelt, mutterseelenalleine und ohne Halt ins Dasein geworfen wurden. Vielen Dank!